Mustang
Seit vielen Jahrhunderten zogen durch Mustang die transhimalayschen Karawanenrouten und errichteten eine Verbindung zwischen Tibet im Norden des Himalaya und Nepal und Indien in dessen Süden. Denn an keiner anderen Stelle lässt sich der Himalaya leichter überwinden als durch die Schlucht, die der Fluss Kali Gandaki im Laufe von Millionen Jahren quer durch das die Nordseite Nepals bildende Himalaya-Gebirge gegraben hat, und die durch Mustang verlaufend weiter südlich zwischen den 8.000ern Dhaulagiri und Annapurna zur tiefsten Schlucht der Erde mit 6.000 Metern wird. Aus den abflusslosen Seen des Changthang, den Hochlandsteppen in Nordwest-Tibet, wurde auf diesem Weg Salz zu den Handelszentren und Umschlagplätzen auf der Südseite des Himalaya transportiert.
Entlang des Karawanenwegs errichteten lokale Herrscher Burgen und Festungen und kontrollierten den Salzhandel. Sie verlangten Zollgebühren und weitere Abgaben und brachten es damit teils zu erheblichem Wohlstand. Im Jahr 1380 konnte der aus einem tibetischen Adelsgeschlecht stammende Amepäl die Festungen entlang des oberen Kali Gandaki-Tals vereinen und in Lo (Mustang) - heute Lo-Manthang - eine Herrscherdynastie installieren. Wenn man den Quellen glauben kann, existiert diese in ununterbrochener Linie bis heute. Der letzte König von Mustang war der 25. Repräsentant der Lo-Dynastie. Er war der 1930 geborene Jigme Dorje Trandul und führte den Titel „Raja“ (König). Seit 1964, dem Tod seines Vaters Angun Tenzing Trandul, war er der Herrscher von Mustang. Dass die nepalische Regierung durch Ausrufung der Republik Nepal in 2008 die Monarchie abschaffte und damit gleichzeitig auch dem König von Mustang dessen Titel aberkannte, interessierte hier niemanden. Er war und blieb „His Majesty, The King“ mit sämtlichen Rechten und Befugnissen bis zu seinem Tod am 16. Dezember 2016 im Alter von 86 Jahren.
Seit König Amepäl wirkten etliche große Gelehrte und bedeutende Künstler in Mustang und brachten eine glanzvolle Kultur mit einem reichen Kunstschaffen zum Erblühen, die sich noch heute vor allem in den Klöstern Mustangs dokumentiert. Trotz teilweise unruhiger Zeiten konnte sich das kleine Königreich etwa 400 Jahre lang behaupten und durch seine Schlüsselposition an der Salzstraße zu beträchtlichem Reichtum gelangen. 1760 eroberte der König von Jumla das Königreich Mustang sowie die weiter südlich liegenden Festungen entlang des Kali Gandaki. Doch bereits 30 Jahre später wurde das gesamte Gebiet von Prithvi Narayan Shah, dem aufstrebenden König von Gorkha übernommen, dem es gelang, zunächst die Handelsrouten der Malla-Könige des Kathmandu-Tals unter seine Kontrolle bringen bevor seine weiteren Eroberungsfeldzüge ihn bald zum Herrscher über ganz Nepal machten. Er wurde der erste König des heutigen Staates Nepal. Damit begann die Zugehörigkeit Mustangs zu Nepal, zugleich aber auch der Verfall. Mustang verlor seine politische Macht und zugleich seine Monopolstellung im Salzhandel. Das Land verarmte immer mehr - bietet es doch aus eigenen Ressourcen nur schwierige Überlebenschancen. Die hohen Berge des Himalaya wirken wie eine Klimascheide, welche die Regen des von Süden kommenden Monsuns abfangen. Kaum Feuchtigkeit gelangt nach Mustang, dagegen stürmen das ganze Jahr über kräftige Winde durch die Kali Gandaki-Schlucht von Süden in das Land hinein.
Die einst so hoch stehende Kultur ist heute noch mancherorts zu bewundern, jedoch ließ der Zahn der Zeit viele Fassaden im wahrsten Sinne des Wortes abbröckeln. Glücklicherweise ist mit der „American Himalayan Foundation“ seit nunmehr 12 Jahren ein Geldgeber vorhanden, der im Moment in der Hauptstadt Lo-Manthang die fantastischen Fresken in den Klöstern restauriert.
In der neueren Geschichte wurde Mustang von der chinesische Annexion Tibets in den 50er Jahren doppelt getroffen. Einerseits wurde jeder Handel Mustangs mit Tibet unterbrochen, und die Bewohner Mustangs, die Lopas, durften nicht länger ihr Vieh auf tibetische Weiden treiben, wodurch die traditionelle Lebensgrundlage von Tierhaltung und Ackerbau im Sommer sowie Handel im Winter zusammenbrach. Andererseits nisteten sich tibetische Freiheitskämpfer - Khampas - in Mustang ein und bauten Stützpunkte, von denen sie mit amerikanischer Unterstützung einen erbitterten Guerillakrieg gegen die Chinesen führten. Die Regierung Nepals erklärte daraufhin das sensible Gebiet zum Sperrbezirk, zensierte sämtliche Nachrichten und ließ das Königreich Mustang Jahrzehnte lang für das Ausland sperren, machte es somit zum verschlossenen, zum „verbotenen Königreich“. Erst Anfang der 70er Jahre, als die CIA die Unterstützung der Khampas eingestellt hatte, beendete die nepalesische Armee die Aktivitäten der tibetischen Widerstandskämpfer. Im Oktober 1991 hob die Regierung die Sperre für Mustang auf. Seitdem dürfen ausländische Besucher in begrenzter Zahl und mit einer enorm hohen Gebühr für ein Visum von derzeit 500,-- US-Dollar das Königreich besuchen.

In der Folgezeit versuchte die nepalische Regierung verstärkt das Königreich Mustang in das Land Nepal zu integrieren. Verwaltungsstationen und Schulen wurden - teils mit ausländischer Unterstützung - errichtet. Jedoch sollte diese Integration unter dem Vorzeichen geschehen, die Bewohner Mustangs in eine Gesellschaft nach Hindu-Normen umzuwandeln. In den von der nepalischen Regierung installierten Schulen unterrichten ausschließlich Hindu-Lehrer auf Nepali. Der Erhalt der ursprünglich tibetisch-buddhistischen Kultur Mustangs ist seitdem starken Angriffen ausgesetzt. Dem Schulvereins Lo-Manthang ist es zu verdanken, dass daneben aber auch der Erhalt der tibetischen Kultur in den Schulen gepflegt wird. So unterstützt der Verein die „Tsunmai Lobdra Nunnery School“ in Tsarang, in der etwa 30 angehende Nonnen ausgebildet werden, sowie die „Tsechhen Shedrub Ling Mon Gon Monastic School“ in Lo-Manthnag bei der Ausbildung von etwa 60 Mönchen. In den Klöstern zerfallen die Dokumente der einst hochstehenden Kultur, und die einzigartigen Fresken verwittern. Sorge um ihren Erhalt wird hauptsächlich aus dem Ausland betrieben. Insbesondere ist Luigi Fieni sicher der wichtigste Initiator beim Restaurieren der Tempelfresken in Lo Manthang und Umgebung.


Es täuscht leider die heute oft verbreitete Annahme, Mustang sei durch seine lange Isolierung noch heute eine unberührte Enklave tibetischer Kultur. Um sich in der heutigen Hindu-Gesellschaft zu emanzipieren, nennen sich heute viele Lopas „Gurung“ nach dem nepalesischen Volkstamm in der Verwaltungszone Gandaki. Und aus dem alten tibetischen Adel der „Kudaks“ wurden „Bistas“, die in der nepalischen Gesellschaft den „Thakuris“ gleichzusetzen sind und hinter den „Brahmanen“ (Pristern) mit den „Chhetri“ (Kriegern) die höchste Kaste bilden. Sogar der König musste nach dem „Raja-Akt“ von 1961, nach dem jeder lokale Herrscher ein Hindu sein muss, um von der Regierung anerkannt zu werden, den hinduistischen Glauben annehmen. Er führte seitdem den Hindu-Namen „Bista“ im Familiennamen. Natürlich war er auch weiterhin gläubiger Buddhist.
In Kagbeni, am südlichen Ende Upper-Mustangs, betritt man das Land und befindet sich bereits im tibetischen Kulturraum. Von hier aus führt der Weg zur Hauptstadt Lo-Manthang zunächst entlang des Kali-Gandaki durch riesige skurrile, oft total unwirklich erscheinende Gebirgsformationen, die offenbar sämtlichen extremen Launen der Natur entsprungen sind. Mit insgesamt nur etwa 12.000 Einwohnern ist Mustang nur sehr dünn besiedelt, und es dauert oft Stunden von einem Ort zum nächsten. Am Eingang der Ortschaften sind zur Begrüßung meist Chörten errichtet, buddhistische Sakralbauten, in denen sich Reliquien oder heiligen Schriften befinden. Der Chörten (sanskr. Stupa) wörtl. der Behälter, ist das markanteste Sakralbauwerk des tibetischen Kulturraums. Er enthält im Innern Reliquien, Buddhabilder oder Statuen. Unerlässlich ist in jedem Chörten die Beigabe von heiligen Schriften oder einer kleinen heiligen Silbe (Mantra).

Bei Stupas bzw. Chörten oder Chörten-Gruppen finden wir immer wieder die Farben weiß, blau und rot-gelb, welches die Farben der Sakya-Schule sind und die drei Bodhisattvas Manjushri, Avalokiteshvara und Vajrapani symbolisieren:
Manjushri, Bodhisattva der Weisheit - rot-gelb
Avalokiteshvara (Chenrezig), Bodhisattva des Mitgefühls - weiß
Vajrapani, Bodhisattva der Stärke und Energie - blau
Diese drei Bodhisattvas zeigen den Himalayabewohnern immer wieder, wie sie die drei Grundübel Dummheit, Gier und Hass ablegen können: nämlich durch Streben nach Weisheit, Stärke (Energie) und Liebe. Avalokiteshvara ist der Boddhisatva des unendlichen Mitgefühls, dem Grundprinzip des Mahayana-Buddhismus. Er kommt immer wieder in Form des Dalai Lama als Reinkarnation auf die Erde.
Die meisten Orte haben ein Kloster in typisch dunkelroter Farbe mit alten Figuren und Wandmalereien der verschiedenen Buddhas, Bodhisattvas oder Dämonen bzw. deren Bezwinger des tibetischen Buddhismus. In Mustang wird immer wieder vor allem Padmasambhava verehrt, der im 8. Jhd. den Buddhismus nach Tibet brachte. Doch muss er sich teils mächtigen Dämonen entgegen stellen. Im Gönkhang-Monastry in Gheling z.B. steht er vor einem Kampf mit zwei grausamem Skelett-Dämonen, wobei ihm auf der anderen Seite der Schutzgott Mahakala zu Hilfe kommt.
In Lo Ghekar bezwang Padmasambhava den größten Dämon, dessen Blut die Felsen bei Dhakmar rot färbte. Wo sein Körper zu Boden fiel, wurde das älteste Kloster Mustangs mit unzähligen kleinen Chörten errichtet, um den Dämon in der Erde zu bannen. Seinen Darm schleuderte Padmasambhava zwei Tagesetappen weiter nach Ghemi, wo heute die mit fast 400 Metern längste Mani-Wall Mustangs steht, im Volksmund „Darm des Dämonen“ genannt. Solche Mani-Walls mit Steinplatten, in denen das heilige „Om Mani Padme Hum“ oder Gebete hineingraviert wurden, sowie Gebetsmühlen sind im tibetischen Kulturraum aus dem täglichen Leben nicht wegzudenken. Die Gebete auf Schriftrollen im Innern der Gebetsmühlen werden beim Drehen vom Wind mitgenommen.
Nach dem Durchqueren teils fantastischer gigantischer Landschaften in einer Höhe von 3.500 - 4.000 Metern und dem Überwinden einiger Pässe erreicht man nach einigen Tagen schließlich am nördlichen Ende des Landes die mit einer Stadtmauer umgebene Hauptstadt Lo-Manthang. Allein der Anblick der Stadt mit den drei gewaltigen Klosterbauten und dem wuchtigen zentralen Königspalast ist ein erhebendes Gefühl. Bis vor Kurzem noch war dieser Blick keinem Ausländer erlaubt. Unwillkürlich denkt man an Sven Hedin, der 1907 ein Stück nach Mustang hineingeritten war, an Hans Kopp, 1944 ein Fluchtgefährte von Heinrich Harrer und Peter Aufschnaiter aus dem indischen Internierungslager, der bei Tradüm im heutigen Regierungsbezirk Shigatse in Tibet seine beiden Weggefährten verließ, um sich anschießend nach Mustang durchzuschlagen, oder an den Schweizer Geologen und Nepal-Kenner Toni Hagen, 1952 der erste offizielle europäische Besucher in Lo-Manthang, bevor die nepalesische Regierung Mustang verschloss. Doch waren die 12.00 Lopas, die im Distrikt „Upper Mustang“ wohnen, ihrerseits nicht eingesperrt. Es stand ihnen stets der Weg nach Süden offen. Vor allem im Winter ziehen auch heute noch etliche Lopas nach Südnepal oder Indien, um dort Geld zu verdienen. Doch ist die Gesellschaft Mustangs innerlich gespalten. Sie ist zwischen ihrer überkommenen Tradition und den Anforderungen einer modernen Gesellschaft hin- und hergerissen, von ihrer geistigen Heimat Tibet getrennt aber auch von der Entwicklung des modernen Nepal weit entfernt. So sind viele Lopas heute auf der Suche nach ihrer Identität.